Dem ehemaligen Θεατρο Εμπροσ (Empros) wurden die Gelder gestrichen und es musste schließen. Eine Gruppe Künstler entschloss sich daher es am 11.11.2011 zu besetzen, veranstaltet dort kostenlose Programme und bietet der open assembly des Stadtteils Ψύρρη (Psyrri) einen Raum zur Diskussion und Aktion. Die Versammlungen der realdemocracy-Bewegung gibt es jetzt wöchentlich in allen Stadtvierteln, seitdem der ΣΥΝΤΑΓΜΑ-Platz (Syntagma) nicht mehr occupied ist. In eben jenem Theater trafen sich in den letzten Tagen auch Aktivisten gegen die Austeritätspolitik um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen. Entscheidende Erkenntnis der Erfahrungen aus den sozialen Kämpfen ist der Zusammenhang wirtschaftlicher Situationen in Griechenland, Italien und allen anderen Ländern der EU. Das sich zurückziehende Kapital hinterlässt verbrannte Erde: ein zusammenbrechendes Sozialsystem, den Abbau demokratischer Rechte, die Beschneidung der Freiheit und die zunehmende Verachtung der Menschenwürde. Das Finanzmarktregime, welches in der Tat wie eine postdemokratische Besetzungsmacht über Griechenland als ein Versuchslabor neuartiger neoliberaler Ausbeutung herfällt, bedient sich aller herrschaftlichen Mittel um die Sparpolitik durchzusetzen: Damit aus der Asche wachsen kann, was nur den Wenigen zu Gute kommt.
Sind die griechischen Proteste für ihre Intensität bekannt, muss die Rolle der medialen Darstellung von Gewalt oder alternativen Gesellschaftsentwürfen in den Blick genommen werden. Die gezielte Entpolitisierung der Menschen und die Produktion von Angst geschieht in Griechenland auf einer psychologisch äußerst ausgefeilten Ebene und kann doch nicht die enormen Widersprüche verdecken, welche der Zwang zum wirtschaftlichen Wachstum generiert. Die Dinge sind anders, als sie gescheint werden. Zum Beispiel wird die Innenstadt in der staatlichen Propaganda bewusst als schrecklicher Ort des Chaos insziniert; beherrscht von Junkies, Anarchisten und Migranten. Geht man auf die Straße kann davon aber nicht die Rede sein. Denn in einem Zustand, welcher die logische Konsequenz bestimmter politischer Maßnahmen ist, organisieren die Menschen ihr Zusammenleben ganz natürlich von selbst, weil sie in diesen Moloch geworfen, nichts weiter als leben wollen.
Wenn der Staat aber so offensichtlich seine Legitimationsgrundlagen missachtet, nimmt es somit nicht Wunder, dass die Menschen ganz von selbst nach anderen gesellschaftlichen Organisationsformen suchen oder sie aus purer Notwendigkeit einfach leben. Denn die wirtschaftliche, genauso aber auch politische, Krise verändert die Gesellschaft insgesamt, wenn jene die viel haben, ihr Geld in die Schweiz bringen, jene die genug hatten, nun hart rechnen müssen und jene, die schon zu wenig hatten, an den Rand ihrer Existenz gedrängt werden und auf der Straße leben müssen.
Was aber soll die Antwort auf diese Verhältnisse sein? Soll da eine andere Welt möglich sein, oder heißt es zunächst einmal zu sagen, dass diese Welt nicht möglich sein darf? Soll da eine große demokratische Bewegung aufkommen, sollen womöglich sozialere Parteien in den Wahlen im Mai an die Macht kommen und die Maßnahmen etwas gerechter durchsetzen, zu deren Verwalter sie werden? Vielleicht gilt es aber auch den Alt68ern zu gedenken, welche formulierten: „Wir sind eine kleine radikale Minderheit“. Dieser Vergleich ist nicht zufällig gewählt, denn wirklich erinnert einiges von den griechischen Zustände eine schon lange überwunden geglaubte Zeit. Paradox aber ist, dass diese Situation eben gerade ganz aus dem Heute erwächst und in gewisser Weise auch anderen Ländern zur Vorausschau dienen kann, wenn die Grundlagen unserer Zivilisation nicht bewusst geändert und von den Menschen gestaltet werden.
Jene ohne Stimme, ohne Wahlrecht, sind es die symbolisch dafür stehen, dass das politische System die Menschen nicht vertritt. Das erfahren sie schließlich hier jeden Tag, bei ihrer Reise nach Europa und oft wohl auch in ihren Heimatländer. Semipermeabel, halbdurchlässig, sind die Grenzen, welche Kapitalströme ohne Rücksicht hinein- und hinausdiffundieren lassen, während die kapitalistisch Unproduktiven welche darin existieren als Fremdkörper wahrgenommen, verachtet und von Faschisten verprügelt und ermordet werden. Für manche Griechen besteht kein Widerspruch darin, die Ausländer weg haben zu wollen und selber 30 Jahre lang in Deutschland gearbeitet zu haben. Andere aber sehen ihn, engagieren sich und setzen zum Beispiel für eine menschenwürdige Betrachtung des Israel-Palästina-Konfliktes ein, wie bei einer Diskussionsveranstaltung in der angeeigneten Markthalle, der Αγορα im Stadtteil Κυψέλη (Agora Kypseli).
Begreifen sollten wir, dass die harten sozialen Konflikte, welche seit zwei Jahren hier in Athen ausgetragen werden und zur Realität Syriens, Palästina-Israels, Ägyptens und überhaupt zum Großteil der Welt gehören, keine ‚Fehler‘ sind, sondern Kennzeichen dessen, dass die Akkumulation von Kapital funktioniert oder (gewaltsam) wieder hergestellt wird. Deswegen scheint es, dass wir gezwungen sind in einer Gesellschaft leben zu müssen, welche ausgrenzt und einmauert. Sie grenzt aus, aus einem fiktiven und nationalistisch hergestelltem Ganzen, wie gerade auch heute am Nationalfeiertag zur Befreiung der türkischen Herrschaft vor 91 Jahren. Sie mauert ein, in eine abstrakte und anonyme (Pseudo-)Individualität, welche die Menschen auf ihren ökonomischen Nutzen reduziert und Glück durch Konsum verspricht, weil er den Status der Menschen in der sozialen Hierarchie bestätigt.