Archiv | Juni, 2012

WARTEN AUF’S WARTEN

24 Jun

vom 23.06.12

Mal wieder Wahlen. Mal wieder Legitimationsbeschaffung und Trennung von dieser von politisch-programmatischen Inhalten. Die unglaubliche Propaganda der EU-Institutionen, allem voran auch deutscher Politiker wie Merkel und Schäuble, mit Kombination wirtschaftlicher Erpressung und Drohungen auf den Finanzmärkten haben ihr Werk getan und den neokolonialen Zustand des status quo bestätigt.

Kein Entkommen also aus dem eisernen Würgegriff finanzkapitalistischer Herrschaft seinen ihren autoritären Unterdrückungsmethoden, wo die pseudodemokratische Wahl in einem vormals zumindest teilweise souveränen Staat von den herrschenden Eliten zu einer Abstimmung über Leben und Tod gemacht wurde. Eigentlich sollte es bei nationalen Wahlen darum gehen, ein nationales Parlament zu bestimmen um nationale Entscheidungen in einer parlamentarischen Demokratie zu treffen. Wer die Wahl in Griechenland am 17.06. verfolgte konnte aber die offensichtliche Falschheit, die ungeschminkte Verleugnung dieser Idee – welche an sich selber nicht die beste ist und zur Debatte stehen sollte – deutlich erkennen.

Dennoch ist ein Parlament nun einmal da. Es steht da rum am Syntagmaplatz, dem Platz der Verfassung, im Herzen Athens. Es steht da rum und VertreterInnen gehen rein und raus, sitzen auf ihren Sitzen und entscheiden über Entscheidungen, die die Gewählten nicht selber wählen. Eine Verwaltung der Menschen anstatt der Dinge, wie sie kaum besser einzurichten gibt, wo niemand mehr verantwortlich ist.

Wenig überraschend also angesichts der Umstände, dass sich kein politischer Wandel vollziehen wird, wenngleich die parlamentarisch-demokratischen Möglichkeiten ohnehin begrenzt sind. Auch eine Regierung, welche wenigstens mehr oder weniger die Idee und den Anspruch propagierte, die Interessen einer größeren Zahl von Bürgern auch entgegen ökonomischen “Sachzwängen“ zu vertreten, hätte die korrupte Verwaltung des Staates, seine Justiz, Militär und Polizei gegen sich. Vom internationalen Verwertungsdruck ganz zu schweigen.

Insofern sind die politischen Positionen gesellschaftlich Gruppierungen wieder relativ eindeutig verteilt, wenn Nea Demokratia (29,5%) und PASOK (12%) die kommende Regierung bilden mit stabilisierender Unterstützung von Demokratiki Aristera (6%). Ebenfalls wenig überraschend war, nach diesem zweiten Wahlgang, dass es eine Konzentration der Stimmen auf die beiden wesentlichen Alternativen ND und oppositionellen SYRIZA gab, welche ihre Stimmenanteile jeweils um beachtliche 10% steigern konnten. Damit bildet das griechische Linksbündnis eine seriöse Alternative zu den herrschenden Gruppen mit beachtlichen 27% der Stimmen.

Unter anderem konnten sie Stimmen von KKE (4,5%) gewinnen, welche inhaltlich nicht die geringsten Bemühungen machte, ihre versteiften und simplifizierten Programmpunkte den realen politischen Bewegungen anzupassen. Die ‚Unabhängigen Griechen‘, eine rechte populistische Abspaltung von ND erhielt weniger als in den letzten Wahlen, aber dennoch 7,5%. Die brachial-gewalttätige Vorgehensweise der Neofaschisten von Chrisi Avgi, sowohl auf der Straße als auch in den öffentlichen Medien weckte die ‚Hoffnung‘, das jene offen faschistisch auftretenden, menschenverachtenden Vollidioten diesmal weniger Stimmen erhalten würden. Dies war leider kaum der Fall und sie erhielten wieder erschreckende 7%.

Eine Wahlbeteiligung von immer noch über 62% scheint fast mehr zu sein, als unter griechischen postdemokratischen Bedingungen zu erwarten ist und dennoch war jede nicht abgegebene Stimme, abgesehen von denen für die Kleinparteien, eine für die Nazis. Bei den Direktkandidaten bewies sich erneut die Stärke von SYRIZA in den Wahlkreisen in und um Athen (= Attiki) und Kreta, während ND im Rest den Landes stark punktete.

Damit haben wir 179 (von 300) Sitzen im Parlament die Regierung: ND 129 Sitze (einschließlich 50 Extra-Sitze, weil stärkste Fraktion), 33 für PASOK, 17 für Demokratiki Aristera.

Die Opposition ist zahlenmäßig stark, aber programmatisch gespalten wie die Gesellschaft. Allerdings gibt es eine demokratische, seriöse Alternative, welche den Herrschaftsapparaten von EU und Weltmarkt ein Zittern und Bangen um ihre Krisenprofite bescherte und deswegen dass volle Propagandainstrumentarium mobilisieren ließ, was sicherlich auch keine Kleinigkeit gekostet hat.

Buisiness as usual also – die alltägliche Zwangsjacke, welche jede Fantasie abtötet. Immerhin, durch eine unergründliche Verfügung der gnädigen Märkte ist Griechenland immer noch nicht auf dem Level des verwalteten Rumänien oder des brutal-autoritären Weißrussland angekommen, um einen europäischen Vergleich zu bemühen. Die Verhältnisse allerdings bringen Griechen, Italiener und Spanier näher zueinander, welche zuvor unterschiedlicher waren. Und überhaupt werden die Menschen in unseren kalten Zeiten wieder näher zusammenrücken. Sei es in der Kleinkriminalität; bei der Abtötung von aufgezwungener Freizeit, nachmittags bei Kaffee abends bei Alkohol; bei gemeinschaftlichen Tätigkeitsformen wie Müll recyceln oder Ausländer verprügeln – die Menschen kommen zusammen (wenn sie nicht den ganzen Tag für 4 Euro die Stunde arbeiten oder arbeiten müssen, ohne überhaupt Lohnzu erhalten bzw. irgendwohin auswandern, wenn sie dazu die Möglichkeit haben).

Insofern verbleiben wir in einem Warten. Die Sonne scheint und alles was geht, geht seinen Gang und alles was steht, steht seinen Stand. Dabei scheint es ja schon immer so gewesen zu sein: Dass das Leben ein Warten ist; ein Warten auf Leben.

HERRSCHAFTSLEHRE

17 Jun

vom 17.06.12

Ohne jetzt den Altgriechen-Vergleich zu machen, wie er ja immer noch so beliebt ist und dabei zur Rechtfertigung und Romantisierung der Sklavenhaltergesellschaft dient, muss doch zugestanden werden, dass der alte Aristoteles in mancher Hinsicht Recht behalten hat. Wenn er als einer der ersten eine Systematik und Beurteilungskriterien von Regierungs- und Staatsformen aufstellte, beinhaltete dies die aus der Empirie aufgegriffene Erfahrung, dass es bessere und schlechtere Formen der Herrschaft gibt. So lässt sich der Erfolg einer Herrschaft, wie auch Machiavelli ausgesprochen hat, natürlich vor allem nach ihrer Stabilität und Kontinuität messen, nach ihrem ersten Prinzip: der Selbsterhaltung.

Zu diesem Zweck, wie Aristoteles im Vergleich von um die 200 Verfassungen herausfand, scheint es am besten zu sein, wenn es eine Mischung der verschiedenen Herrschaftsformen in einem Staat gibt. Ein fein abgewogenes Bisschen von jedem zur Legitimation, Effektivität und notwendigen, aber selbstverständlich systeminternen Flexibilität. Denn wo Politik Ausbeutungsverhältnissen dient, muss sie dem Lauf der Dinge folgen, welchen sie selber nicht vorgibt, um dann vorzgeben sie vorzugeben.

Und so gibt es in Griechenland die Monarchen, jene ‚Troika‘ aus Weltbank, EU und EZB, welche den Lauf der Dinge bestimmt, den Rahmen des Feldes setzt, auf dem sich fortwährend bewegt werden soll. Künstlich erzeugt und selbst ein Herrschaftsinstrument ist der verbreitete Glaube an die vorabsolutierte Legitimität der harten Herrschaft, begründet in ihrer göttlichen Rationalität. Anbetung gebührt jenen weisen, unklärlichen Mächten, welche sagen was ist und auf die Wirklichkeit so lange einprügeln, bis sie ist, wie sie sagen. Und unter Folter erkannten wir schließlich, dass alles wahr war, wessen sie uns beschuldigten; dass wir alle Sünder sind und für unsere Schulden bezahlen müssen.

Denn wir sitzen alle in einem Boot: Diejenigen, die ein halbes Leben lang hart geschuftet und nun nichts, nichts davon haben; diejenigen, die einfach Leben wollten und nun das asketische Leben der Einfachheit kennenlernen dürfen; diejenigen, welche all die Jahre die andern ausgesaugt und die Gemeinschaft enteignet haben – so, wie es auch zuletzt und so schnell geschah. Was früher Plünderung hieß, nennt sich heute nachholende Modernisierung. Und die technokratische, unantastbare Verwaltung des Ausnahmezustandes ist vielmehr vernünftige Notwendigkeit, als den Hungernden Brot zu geben.

Eine Oligarchie, die schon lange besteht hält wacker ihre Positionen, wo Kapital nicht national besteuert werden kann. Jede Kolonie braucht langfristig ihre eigene Herrschaftselite, in  ihrem eigenen Land, wo ihnen nichts Echtes gehört. Denn man möchte doch wissen, von wem man beherrscht wird und in der eigenen Sprache hören, dass es sicherlich nicht perfekt, aber am Ende doch die beste Organisation menschlicher Gemeinschaft ist, welche die Menschheit hervorbringen konnte. Obwohl im Grunde genommen klar ist, dass es nur die bisher effektivste Form der Ausbeutung menschlicher Arbeit ist in Kombination mit dem Konsum der ganzen wertlosen Scheiße. Menschen sind sowas von egal. Doch leider konnte noch nichts gefunden werden, was ihre Funktionen ersetzt und so müssen sie eben etwas organisiert werden. Würden sie das hingegen selber tun, könnten sie sich mangels akzeptabler Profitrate wohl kaum auf dem Weltmarkt halten.

Wie die Aktienpapiere und der ganze Plunder, werden denn auch die Menschen bewertet. So war es ja auch immer schon (aber zuletzt doch um so deutlicher) eine nackte Tatsache, dass zum Beispiel Griechen unheimlich faul sind, sich alle gegenseitig bescheißen und zu blöd, sich zu organisieren. Natürlich. Und Griechen schimpfen auf Ausländer oder verprügeln sie, weil sie schmutzig sind, die Arbeitsplätze wegnehmen, stehlen und kleine Kinder essen. Die Juden haben die Brunnen vergiftet.

Damit wären wir dann auch bei dem demokratischen Element der Herrschaft. Heißt es, Demokratie wäre die Wahl zu wählen, wer einen unterdrückt, stimmt die Weisheit nur teilweise. Heute jedenfalls ist es eher die Wahl, wen Leute dann am Ende verantwortlichen machen dürfen – ohne, dass sich etwas ändert, wenn sie selbst rat- und hilflos bleiben wollen.

Die die Verantwortung tragen, sind nicht die den Lauf der Dinge bestimmen. Ohne Teufelchen, die zu beschuldigen sind, kein Kasperletheater. Schlimm genug, mit allem was darin mitschwingt, ist das „Volk“ in „Herrschaft“. Doch immerhin, was in der Demokratie angelegt ist, ist wenigstens das Potenzial zu begreifen, welche Funktion der Teufel mit jener des Kaspers partnerschaftlich gemein hat: den Leuten den Spiegel vorzuhalten. Denn zur Herrschaft gehören auch diejenigen, die die Drecksarbeit machen und jene, die sich beherrschen lassen; zur Lüge gehören auch diejenigen, die sie verbreiten und jene die sich belügen lassen.

Das mag am Ende alles ‚menschlich‘ sein, weil es dem Sicherheitsbedürfnis entspricht, nachdem wir uns in die vollkommene Abhängigkeit begeben haben. Das mag zu akzeptieren sein, weil Menschen ja doch nur Leben wollen und wohl das beste aus ihrer Lage machen müssen. Es mag verständlich sein, weil irgendwann einfach die Kraft raus ist, gegen die Entmenschlichung anzugehen und mit Kaufhausgedüdel und bunten Farben auf dem Bildschirmen sich die Sache aushalten lässt – Lebenig Tote haben schon so manches Leben verlebt. Nur eines soll’s am Ende nicht sein: Die Behauptung, wir hätten das ja alles nicht gewusst. Nach uns die Sintflut!

ÜBER FREIRÄUMCHEN

9 Jun

vom 09.06.12

Ein Aspekt der freieren Gesellschaft wird schon heute in aller Welt gelebt und ist gerade auch hier ersichtlich: Es ist die Gesellschaft, die sich in Gemeinschaften selbst organisiert; wo Menschen zusammenkommen oder zusammengeworfen werden, um ihr Leben unvermittelt zu organisieren, im Prozess die Vermittlung umzuwälzen.

Interessant in Athen, mit seiner ausgeprägten Szenekultur, sind die verschiedenen Häuser, welche die einzelnen mehr oder weniger politischen Gruppen beleben. In diese Thematik insgesamt sicherlich auch mit hinein spielt die anders ausgeprägte Gruppenmentalität der Griechen – mit ihren bewundernswerten und befremdlichen Aspekten.

Jede größere Gruppierung hat ihr Häuschen, ihre Basis, ihre Bar. Wenngleich das auch für andere Gruppen neben der ‚links-alternativen-rebellischen Szene‘ zutreffen mag, hier ein paar Eindrück aus jener.

Im steki metaston (= Haus der Immigranten) finden jeden Abend in der Woche zwei Stunden lang kostenlose Sprachkurse für Migranten statt. Viele Leute arbeiten hier seit mehreren Jahren mit den Migranten, wozu neben dem Spracheerlernen viele weitere praktische Hilfe gehört: juristischer Beistand, Tausch von Fähigkeiten und Gütern, inhaltliche Veranstaltungen und natürlich – ganz wichtig – der Austausch von Informationen. So versteht sich auch von selbst, dass die Menschen, welche ins steki metanaston ihre Kraft, in einem Netzwerk organisiert auch Einfluss auf die Migrationsdebatte und Politik insgesamt zu nehmen, indem sich auch an der Organisation von Demonstrationen usw. Beteiligt sind. Inhaltliche richten sie sich offenbar u.a. an den Zapatistas aus. Ein Bild von Gandhi hängt aber auch an der Wand.

Das ’nosotros‘ auf der anderen Ecke der plateia Exarcheia gehört dem anarchistischen Verein AlfaKappa, der mit der Gruppe occupied london assoziiert ist. Auch dort gibt es öfters Sprachkurse, wenngleich weniger organisiert. Dafür gibt es aber einen Kurs um griechische Instrumente zu erlernen. Nebenbei ist es mehr oder weniger doch einfach ein ‚linker‘ Szeneschuppen, wenngleich Anarchisten mit Parteien natürlich nichts am Hut haben wollen. Da das ’nosotros‘ ein sehr offenes Haus ist, ist es auch kein Zufall, dass sich hierhin zunächst viele Ausländer, sprich Reisende, Erasmus-Studenten und Weltenbummler verirren. Viele Szene-Griechen sind wegen bestimmter politischer Äußerungen aber eher geteilter Meinung, was das nosotros angeht.

Wiederum auf der dritten Ecke des Platzes steht das ‚K*BOX‘ (sprich: Kvox). Das Haus hatte längere Tradition für das Viertel, weil schon früher politische Veranstaltungen dort stattfanden. Ein Gruppe Anti-Authoritärer besetzte und rennovierte es in den vergangenen Monaten erneut. Einen Tag vor der geplanten Eröffnung kam die Polizei, stellte das Viertel auf den Kopf und versiegelte das Haus mit Eisenplatten. Dies war aber doch eher eine formale Geste, denn es dauerte keine 24 Stunden bis in einer politischen Aktion, das Ding geöffnet wurde. Heute ist es ein ziemlich anständiges, sauberes, helles und offenes Kaffee, das sich von vielen Kommerziellen äußerlich nicht zu unterscheiden scheint. Der große Unterschied aber ist: Wer hier was trinkt finanziert, den ‚Kampf‘ bestimmter Menschen, innerhalb und außerhalb des Gefängnisses.

An der Patison-Straße, haben sich in einem alten Unigebäude, seit einigen Jahren Leute eingezeckt. Im ’skaramangar‘ sammelt sich so die postmoderne, progressive, jugendkulturelle Szene, welche sehr aktiv ist. Themen sind u.a. Antispezizismus, Ökoanarchismus, Genderthematiken, aber darüber hinaus auch alles, was nicht so ‚klassisch‘ ist. Öfters laden sie auf dem Plakatwege zu einer Vokü mit Filmvorführung ein und auch, wenn ohne klingeln und aufschließen kein Reinkommen ist, herrscht doch insgesamt eine sehr offene und freundliche Atmosphäre. Außerdem fetzt das Haus an sich.

Nicht so weit weg, gleich beim Viktoria-Platz ist die Villa Amalias. Den Namen hat sie von der Straße, auf der sie 24 Jahre vorher stand – so lange gibt’s das Punker-Anarcho-Haus schon. In dieser Tradition gibt’s da für Faschos und Polizisten auch eher mal auf die Fresse – soziale Realitäten eben. Etwas düster, aber ziemlich groß ist es schon erstaunlich, wie die Leute sich so lange darin halten konnten.

In der Zodohoo Pigis, gleich beim Hügel Strefi, findet sich in einem Kellereingang das avtonomo steki. Inzwischen gibt es das auch schon wieder zehn Jahre und die ersten zehn Jahren sind die härtesten sagt man hier, aber dann geht’s bergauf. Auch wenn das steki, wie gesagt, im Keller ist. Hier treffen sich die Anarchosyndikalisten, welche es in der Tat immer noch, mit der ganzen langen Tradition gibt. Altersdurchschnitt deutlich gehoben, ebenfalls freundliche und offene Atmophäre, jeden Dienstag Vokü für Arbeitslose und Mittwoch normale Vokü. Nebenbei aber sehr wesentlich: Der große Buchvertrieb für alle möglichen linksradikalen Bücher – denn Radikalität beginnt beim Denken.

Neben diesen Häusern, die hier beispielhaft stehen, gibt’s noch viele andere. Die raumgreifenden Ideen haben in Athen eine tiefe Verwurzelung, wenngleich die nächste Phase wünschenswert wäre. Inspirierend bei all dem auf jeden Fall – das es möglich ist, mit seinen Widersprüchen, Raum zurück zu beanspruchen und dadurch Raum zu geben für jene Debatten, welche in der Mehrheitsgesellschaft nicht ernsthaft geführt werden.

METROPOLEN-KLÄNGE UND VERTEXTETE MUSIKALISCHE REISE

1 Jun

vom 31.05.12

Wahrscheinlich ist es in Athen mit der Musik so, wie überall: Wer sucht wird oft finden. Und sich wiederfinden, bei den Klängen, die sie oder ihn ansprechen. Die feste Überzeugung hierbei ist, dass Musik keinesfalls irgendwelche Töne sind, sondern bewusst Gefühle der Menschen ausdrücken, die sie machen und an ihr teilhaben.

Die Möglichkeit der Teilhabe an Musik ist aber wiederum musikspezifisch, denn manche Mugge zielt dahin, die Menschen einzubeziehen, sie zu verwandeln, und etwas mit ihnen zu machen; andere wiederum reduziert den Menschen zum Konsumsubjekt; zum Objekt. 

Letzteres findet sich paradigmatisch zu großen Teilen in Gazi, dem Partyviertel der Stadt. Dort kostet ein Bier sechs Euro aufwärts, aber wer das Geld hat, sollte das zeigen und was anderes trinken. Die Bürgerrkinder und älteren Kinder – der Gesellschaft, wo viele nie erwachsen werden können – gehen dort zum Feiern hin; zum Sichaustoben und funktionieren damit, wie auch den Rest ihres Lebens. Entsprechend die Musik, welche man nüchtern wohl oftmals eher als Geräusch definieren muss – im Gegensatz zum provokaten Geräusch von Hardcore oder Punk aber als das melodische: Dort wo jeder Dreiklang passt und selbst die rhythmische Ausnahme gerade die Einförmigkeit bestätigt, in welcher sich der leichte, zuckerhafte Schleim bewegt, welcher nur dazu taugt, dass Hirn matschig zu machen – entsprechend seiner Funktion, denn anspruchsvoll und fordernd soll ‚Musik‘ bitte nicht sein, Hauptsache ’schön‘ und einfach um das Niveau zu untermalen, auf welchem sich die Kultur dieser Gesellschaft hauptsächlich bewegt. 

 ( www.youtube.com/watch?v=BUTWkFpv7As )

Und so wurde auch viel vom vormaligen underground inzwischen zu kommerziellem Müll, wie Psytrance/Goa, der hier doch recht seltsame Gestalten anzieht und einen mafiösen Anstrich bekommt – mit Atzen-Party-Dress-Code und den entsprechenden chemnischen Drogen, die zu solchen Veranstaltungen obligatorisch sind. Widersprüchlich allerdings, dass jenes auch in freiheitlicher Atmosphäre zu finden ist und sich dann anders gebardet, wenngleich die Musik oft sehr ähnlich ist.

( http://www.youtube.com/watch?v=cwwSbBrX0Yg&feature=related )

Es ist eben nicht ‚eine‘ Gesellschaft und nicht ‚eine‘ kommerzielle Musik, die alles dominiert und auch weite Teile des Radios beherrscht. Nein, gerade in Griechenland ist das Ringen der weltanschaulichen Strömungen zu sehen, wie es sich nicht zuletzt auch in der Musik zum Ausdruck kommt. Hierbei spielen die spezifische Geschichte, die gewordene griechische Mentalität, die geographische Lage auf dem Weg zu den ‚Morgenlanden‘, nahe Balkan, aber auch am Mittelmeer, eine Rolle. Hinzu kommt die Moderne, die globalisierte Welt, welche sich gerade in der Metropole Athen widersprüchlich auch in Klängen manifestiert.  

Gegenbeispiel zu ‚oben‘ und jenes einer ‚anderen Party‘ ist der traditionelle Rebetiko. Diese Musik, als ‚griechischer Blues‘ bezeichnet, entstand anfang des letzten Jahrhunderts und ist etwas ernsthaft Griechenland-Spezifisches. Ursprünglich von den Ausgestoßenen der Gesellschaft in Piräus entwickelt, handeln die kryptischen Texte oft von Opium- und Marihuanakonsum, vom Leben auf der Straße und natürlich aller Zeit, der Liebe mit stärkerer Betonung auf deren Versagung. Es lohnt sich, stärker mit Rebetiko zu befassen, als die meisten Touristen es wohl tun, die ihn abendlich in einer Kneipe als ‚exotisch‘ wiederum konsumieren. Was Rebetiko mit der wirklich traditionell griechischen Musik verbindet ist viererlei: Die traditionellen Instrumente, welche einen ganz eigenen Klang verleihen […], der spezifische Tanz, welcher hier verhältnismäßig doch noch recht verbreitet ist genauso wie, drittens, die Texte, welche den Hörern so gut bekannt sind, dass viele sie instinktiv mitsingen müssen. Viertens wird Rebetiko in besonderer Umgebung (natürlich live!) gespielt, die den Anlass zum Volksfest macht, was bedeutet, in fröhlicher Atmosphäre stundenlang mit Freunden an Tischen rumsitzen, trinken, essen, tanzen, das Leben genießen usw. Tanzen ist nicht so leicht. Ist halt kein Egotanz, sondern kollektiver Volkstanz und muss doch erst mal gezeigt werden. Da gibt es die Stücke, wo die Frauen im Weltschmerz tanzen und angehimmelt werden wollen. Mit diesem phänomenalen Hüftschwung, der den Männern die Augen aus den Höhlen treibt. ( http://www.youtube.com/watch?v=Gw-kn2IPxBA )

Und die Lieder, wo ein depressiver Mann in der Mitte tanzt und die anderen ihn bemitleiden – irgendwie aber auch heilen. Und natürlich, dass alles in allem, das eingehen ins ‚Volk‘, das Alle-miteinander und Jede mit Jedem, was den lange-kapitalistischen Ländern so fremd geworden ist und deswegen seinen fatalen Pseudokonstruktionen hervorbrachte. 

( http://www.youtube.com/watch?v=0TmDYoHJg6Y&feature=related )

Die Message ist klar und es scheint doch sehr verwunderlich, dass auch bei vielen Jugendlichen die Begeisterung für die Tradtition nicht abreißt, weil Rebetiko eben keine verstaubte Musik ist, sondern überaus lebendig und nicht weniger in diesen Zeiten. Es geschieht dabei etwas, es macht was mit den Menschen, indem es sie involviert – soweit, dass die Band schon mal als Arschlöcher beschimpft werden, wenn sie gerade mal einen bekannten Titel nicht spielen wollen.

( http://www.youtube.com/watch?v=IYx6TweQ3YE&feature=related )

Aber die Leute machen selber viel Musik und Musikgeschäfte gibt es hier proportional doch mehr als in Deutschland. Abendlich auf der Straße hört man sie hier und da aus einzelnen Appartments von Menschen selbst gemacht. Und so ist es auch mit den Straßenmusikern, welche sich tagsüber in der Innenstadt und den Touristenvierteln tummeln mit ihren sehr verschiedenen Repertoires – von Bob Dylen über Bob Marley, den Akkordeon- oder Lyra? spielern, Trommlern und ab und an mal einer richtigen rumänischen Balkanband ist alles vertreten. Dort, wo sich auch die Jongleure aufhalten und nach dem ‚Ethnic-Business‘ Ausländern der jeweils gleichen Abstammung, die jeweils gleichen Plastikspielzeuge oder sonstigen Plunder verkaufen, um irgendwie zu Geld zu kommen.

Wenn man ganz großes Glück hat, kann man auf dem Hügel Strefi zur Mittagszeit ein Mädchen treffen, dass im Schatten eines Baumes ein seltenes türkisches Seiteninstrument zu spielen übt.

Die Leute gehen viel raus und gehen viel aus, weil das kulturell so stark erwünscht ist, dass es manchmal wohl fast zum Zwang wird. Das braucht Geld und Geld ist knapp in diesen Zeiten, sodass mancher den sozialen Abstieg vor allem daran spürt, dass er nicht mehr so oft ausgehen kann oder nicht mehr dorthin, wohin er bisher ging. Was natürlich in gewisser Weise Luxus ist, wurde für die meisten Griechen mit den Jahren zur Selbstverständlichkeit und schmerzt darum so sehr, weil die Gemeinschaft, der gesellige Austausch, eben in der Bar, auf der Party und dem Fest stattfindet. Und das wohl wesentlich stärker als in ‚westlichen‘ Ländern.

Zur Not muss man seinen Musik-Geschmack ändern oder fühlt sich ohnehin zu den konsumzwangfreien Veranstaltungen hingezogen, die entsprechend auch freier sind, wie die Free-Jazz-und-alles-Mögliche-Jam-Sessions, welche sich in Athen finden, initiiert von alten Jazzern aus der ‚Szene‘. Wer keine Getränke kaufen muss und sich einfach draußen auf einem Platz zu den Musiker-Freaks rottet, kann auch nichts Großes verlangen. – Genau das ist die Atmosphäre, wo seit je her Großen und Neues entstanden ist, wo etwas entsteht und wo – im Idealfall – auch eine Zuhörerin genauso Teil des Jammings ist und das Ereignis formt, welches versucht Leben in seiner Ganzheit auszudrücken und potenziell auf die Pluralität der Realität verweist – sie durchscheinen lässt. Wer’s nicht versteht oder der Idealisierung grundsätzlich skeptisch gegenübersteht, kann es aber auch als ein schönes nächtliches Event mitnehmen in einer freieren Atmosphäre, wo sich die Musikstile der Welt mischen. Zumindest einige.

Zum Abschluss auch als interessant zu erwähnen ist die Verwendung von Musik, ihrer weltanschaulichen Ausrichtung nach bei den politischen Partei. Die stalinistischen Kommunisten der KKE spielen die ‚Arbeiter-Lieder‘ ihrer langer Tradition plus einiger aus einem lange vergangenem Moskau und tauchen mit nicht weniger als tausend roten Fahnen bei ihrer Demo auf. 

( http://www.youtube.com/watch?v=VTReB0eakWQ )

PASOK und Nea Demokratia haben den gleichen Müll: ein Bisschen Volksgedudel und den kommerziellen Scheiß, nicht so partyvulgär, aber dennoch mit der Absicht der Pseudoindividualisierung des Stimmviehs. Weiter rechts lohnt sich nicht zu blicken, doch ist klar, dass Menschen ohne Fantasie keine Musik machen und keine ‚eigenen Lieder‘ hervorbringen.

SYRIZA hingegen spielt im eigenen Radiosender ‚Kokkino‘ (= ‚rot‘) wie auch auf Veranstaltungen eine seltsame Mischung aus traditioneller Musik (eher Richtung Osten orientiert), klassischen Konzerten, dem guten amerikanischen Rock der 60er/70er, überraschenderweise auch hochaktuell alte Bands wie ‚The Clash‘ und anderem Kram, der sich für eine motivierte Bewegung eignet und mit ihrer Geschichte verknüpft ist. 

 ( http://www.youtube.com/watch?v=hiQoq-wqZxg )

Und das ist der Weg, Widersprüche anzunehmen und mit ihnen umzugehen: Sich die guten Dinge von überall her zu anzueignen und in Vielfalt, aber auch mit Bestimmtheit, gemeinsam einen Sound zu kreieren, der aktuell und vorwärts orientiert ist – Ein bisschen radikal, aber doch auch so, dass er viele mitnimmt – so sind sie, die Demokraten – im Gegensatz zur rebellischen Szene.