Alltagssoziologie

21 Mai

vom 19.05.12

Wo ist denn, fragt man heut‘, das Proletariat? Wo ist der Klassenwiderspruch, wo ist er lokalisiert? Wo sind die Scharen der Fabrikarbeiter, wo doch alles maschiniert ist? Wo sind die Geknechteten, die Ausbeuteten, die Herrscharen, die Armeen des modernen Kapitalismus? Nicht jene, die nicht so reinpassen, sondern jene, die eben ganz reinpassen. Die, die wirklich ganz ganz unten, die doppelt-frei-Geschundenen, dass Musternbild des Prozesses der Domestizierung, dass man aus dem Mensch gemacht hat – und das deswegen nach Menschlichkeit schreit und eine Freiheit will, die auf Gleichheit gegründet, eine Gleichheit will, die das ganze Leben betrifft und das Materielle meint und dadurch Solidarität wird. Und nichts will weiter als eine menschenwürdige Grundlage für alle – nur keinen Himmel und kein Paradies. Sondern genügsam leben und ohne Angst und Sorge sein und sich entwickeln können wollen, nach seinen Möglichkeiten, damit das Mögliche wirklich werde.

Doch Asien, Afrika ist so fern, als dass man sich vorstellen könne, was die klassischen Arbeiter sind. Denn unsere sind doch so reich und satt geworden, so ganz und gar verbürgerlicht, wie das Bürgertum proletarisiert wurde. Und sie fahren ihre autos und sie bauen ihre Wohnungen und kaufen ihre Fernsehbildschirme, sodass der frühere lebendige Widerspruch, nicht mehr Einspruch sondern Zuspruch werde, mitsprechen möglich wurde, in einer Art Demokratie; wo man miteinander manchmal vernünftig reden zu können glaubte; während die einen Gold gewannen und die anderen mit Bonbons beschwichtigt wurden und daber vergaßen, was es bedeutete für sein täglich Brot bis an die physische Existenzgrenze arbeiten zu müssen; im Schweiß und Blut die Erde bebauten, aber nicht die eigene, aber nicht jene aller, sondern jene der Plantageherren, welche Million um Million daran verdienten. Und dennoch, dennoch gibt es sie, die klassischen Arbeiter von damals, heute.

Assid kommt aus Westafrika. Und er hat Arbeit. Im Hafen arbeitet er. Doch in seiner Freizeit trägt er ein blaues Hemd, denn er ist anständig. Er ist alleine und packt sein Leben an, packt an im Hafen, wo die Container entladen werden. So manchen Tag macht er so manchen Job – denn natürlich ist er nicht fest angestellt, sondern ohne ernsthaften Arbeitsvertrag. Oft hat er auch gar keinen Arbeitsvertrag, arbeitet einfach schwarz, in einem Land am Rande der EU, dass bisher noch politisch so eng mit diesem Wirtschaftsraum verknüpft ist. Bei Schwarzarbeit fällt hier das schwarz weg und ist einfach ganz normale Arbeit. Assid hat was im Kopf und sein anständiges Benehmen lässt darauf schließen, dass er aus einem halbwegs gebildeten, funktionierenden Haushalt stammt – in Westafrika. Und jetzt ist er hier und wird proletarisierlt, als Hafenarbeiter, um die Güter aus der westlichen Welt mit den Gütern der restlichen Welt zu tauschen.

Es läuft nicht gut, aber es läuft. Und Assid will sich nicht beschweren. He gets money, little by little, but okay, possible to get around. Immerhin kann er sich leisten, ein Zimmer zu bezahlen. Doch nun die Wirtschaftskrise, wie sei das? Assid weiß, dass es nicht leicht ist. Für ihn ist es nicht leicht und  für viele viele andere ist es nicht leicht, ganz abgesehen von den Großstadtzombies, den Verworfenen. Assid aber beschwert sich nicht und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil er intelligent ist und weiß, wie die Dinge mit der Wirtschaft laufen und zweitens, weil er in einer Situation ist, wo die Worte Ausbeutung, Klassengesellschaft, Reservearmee real sind und keinen Gedanken an Verhandlung, Ausgleich, Teilhabe und dergleichen aufkommen lassen, sondern nur die Aussage: Ja, so ist das. Denn so ist es, in einem Ausbeutungsverhältnis zu leben, ohne die Bonbons, ohne Wohnung, Auto und Plasmabildschirm. Assid braucht nichts erklärt zu bekommen, denn in seinen Worten, vielmehr in seiner ganzen Person, verkörpert er diese Begriffe, nicht auf irgendeine abstrakte Weise, sondern so, wie er ist, mit seiner ganzen Lebensform. Und natürlich braucht er die Kohle und natürlich hofft er, dass es mal besser laufen, dass er einfach eine Chance erhalten wird, was aus seinem Leben machen zu können und nicht nur die nackte Haut verkaufen zu müssen.

Aber er jammert nicht, er beschwert sich nicht, weil er so genau weiß, dass jene, die jammern und sich beschweren, fast nur die sind, welchen es all den Jahren so gut gegangen ist, ohne, das sie was begriffen haben. Der verdammten Mittelklasse, welche ihre Bonbons misst,wäh rend die anderen Sägespäne fressen werden. Assid jammert nicht, sondern versucht das Beste aus seiner Lage zu machen. Das aber bedeutet zu kämpfen, wo das Leben selber der tägliche Kampf ist. Und darum braucht man ihm nichts zu erklären; er erklärt viel besser mit seinem ganzen Leben: eine Inkarnation von Ausbeurtung, Globalisierung und Lebenswille, der das wirkliche Fenster zur anderen Welt offenhält, welche die unsere sein könnte.

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