Archiv | Mai, 2012

Alltagssoziologie

21 Mai

vom 19.05.12

Wo ist denn, fragt man heut‘, das Proletariat? Wo ist der Klassenwiderspruch, wo ist er lokalisiert? Wo sind die Scharen der Fabrikarbeiter, wo doch alles maschiniert ist? Wo sind die Geknechteten, die Ausbeuteten, die Herrscharen, die Armeen des modernen Kapitalismus? Nicht jene, die nicht so reinpassen, sondern jene, die eben ganz reinpassen. Die, die wirklich ganz ganz unten, die doppelt-frei-Geschundenen, dass Musternbild des Prozesses der Domestizierung, dass man aus dem Mensch gemacht hat – und das deswegen nach Menschlichkeit schreit und eine Freiheit will, die auf Gleichheit gegründet, eine Gleichheit will, die das ganze Leben betrifft und das Materielle meint und dadurch Solidarität wird. Und nichts will weiter als eine menschenwürdige Grundlage für alle – nur keinen Himmel und kein Paradies. Sondern genügsam leben und ohne Angst und Sorge sein und sich entwickeln können wollen, nach seinen Möglichkeiten, damit das Mögliche wirklich werde.

Doch Asien, Afrika ist so fern, als dass man sich vorstellen könne, was die klassischen Arbeiter sind. Denn unsere sind doch so reich und satt geworden, so ganz und gar verbürgerlicht, wie das Bürgertum proletarisiert wurde. Und sie fahren ihre autos und sie bauen ihre Wohnungen und kaufen ihre Fernsehbildschirme, sodass der frühere lebendige Widerspruch, nicht mehr Einspruch sondern Zuspruch werde, mitsprechen möglich wurde, in einer Art Demokratie; wo man miteinander manchmal vernünftig reden zu können glaubte; während die einen Gold gewannen und die anderen mit Bonbons beschwichtigt wurden und daber vergaßen, was es bedeutete für sein täglich Brot bis an die physische Existenzgrenze arbeiten zu müssen; im Schweiß und Blut die Erde bebauten, aber nicht die eigene, aber nicht jene aller, sondern jene der Plantageherren, welche Million um Million daran verdienten. Und dennoch, dennoch gibt es sie, die klassischen Arbeiter von damals, heute.

Assid kommt aus Westafrika. Und er hat Arbeit. Im Hafen arbeitet er. Doch in seiner Freizeit trägt er ein blaues Hemd, denn er ist anständig. Er ist alleine und packt sein Leben an, packt an im Hafen, wo die Container entladen werden. So manchen Tag macht er so manchen Job – denn natürlich ist er nicht fest angestellt, sondern ohne ernsthaften Arbeitsvertrag. Oft hat er auch gar keinen Arbeitsvertrag, arbeitet einfach schwarz, in einem Land am Rande der EU, dass bisher noch politisch so eng mit diesem Wirtschaftsraum verknüpft ist. Bei Schwarzarbeit fällt hier das schwarz weg und ist einfach ganz normale Arbeit. Assid hat was im Kopf und sein anständiges Benehmen lässt darauf schließen, dass er aus einem halbwegs gebildeten, funktionierenden Haushalt stammt – in Westafrika. Und jetzt ist er hier und wird proletarisierlt, als Hafenarbeiter, um die Güter aus der westlichen Welt mit den Gütern der restlichen Welt zu tauschen.

Es läuft nicht gut, aber es läuft. Und Assid will sich nicht beschweren. He gets money, little by little, but okay, possible to get around. Immerhin kann er sich leisten, ein Zimmer zu bezahlen. Doch nun die Wirtschaftskrise, wie sei das? Assid weiß, dass es nicht leicht ist. Für ihn ist es nicht leicht und  für viele viele andere ist es nicht leicht, ganz abgesehen von den Großstadtzombies, den Verworfenen. Assid aber beschwert sich nicht und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil er intelligent ist und weiß, wie die Dinge mit der Wirtschaft laufen und zweitens, weil er in einer Situation ist, wo die Worte Ausbeutung, Klassengesellschaft, Reservearmee real sind und keinen Gedanken an Verhandlung, Ausgleich, Teilhabe und dergleichen aufkommen lassen, sondern nur die Aussage: Ja, so ist das. Denn so ist es, in einem Ausbeutungsverhältnis zu leben, ohne die Bonbons, ohne Wohnung, Auto und Plasmabildschirm. Assid braucht nichts erklärt zu bekommen, denn in seinen Worten, vielmehr in seiner ganzen Person, verkörpert er diese Begriffe, nicht auf irgendeine abstrakte Weise, sondern so, wie er ist, mit seiner ganzen Lebensform. Und natürlich braucht er die Kohle und natürlich hofft er, dass es mal besser laufen, dass er einfach eine Chance erhalten wird, was aus seinem Leben machen zu können und nicht nur die nackte Haut verkaufen zu müssen.

Aber er jammert nicht, er beschwert sich nicht, weil er so genau weiß, dass jene, die jammern und sich beschweren, fast nur die sind, welchen es all den Jahren so gut gegangen ist, ohne, das sie was begriffen haben. Der verdammten Mittelklasse, welche ihre Bonbons misst,wäh rend die anderen Sägespäne fressen werden. Assid jammert nicht, sondern versucht das Beste aus seiner Lage zu machen. Das aber bedeutet zu kämpfen, wo das Leben selber der tägliche Kampf ist. Und darum braucht man ihm nichts zu erklären; er erklärt viel besser mit seinem ganzen Leben: eine Inkarnation von Ausbeurtung, Globalisierung und Lebenswille, der das wirkliche Fenster zur anderen Welt offenhält, welche die unsere sein könnte.

NEUWAHLEN, PROPAGANDA UND DIE ANGST VOR TATSACHEN

16 Mai

vom 16.05.12

Endlich geschafft und durchgerungen. Neuwahlen im Land der Verzweifelten, der Kolonie des internationalen Finanzmarktes und des gewaltsamen Akkumulationsregimes der EU.

Das Neuwahlen kommen, war nicht so klar, denn bis zu letzt verhandelten die Spitzen von Nea Demokratia und PASOK mit der ‚Demokratischen Linken‘ und den rechtspopulistischen ‚Unabhängigen Griechen‘. Mit einer dieser beiden Parteien hätten die Herrschaftseltiten genügend Sitze im Parlament vereinen können, um eine Regierung zu bilden.

Stattdessen aber versuchten sie bis zu letzt SYRIZA zum Bündnis, einer ganzganz großen Koalition, zu bewegen und sie wie die anderen zu kaufen. Das frische Linksbündnis ist steht aber nicht zum Verkauf, ganz einfach, weil sich hier Leute versammeln, die keine Marionetten sind. Die Verweigerung der Sparmaßnahmen wie sie die Troika formuliert ist eben gerade die Alternative zu einer Politk der Selbstbedienung. Eine anständige Opposition gehört in einem demokratischen System dazu; zumindest, wenn es parlamentarisch funktioniert.

Warum Nea Demokratia und PASOK aber unbedingt diese vollkommen abstruse und undemokratische Regierung der Groß-groß-Koalition bilden wollen ist offensichtlich: Die Durchsetzung der Sparmaßnahmen mit SYRIZA wäre die vollkommene Aufgabe souveränen Handlungsspielraumes: Eine Politik, die letztendlich wirklich jeglichen Kontakt zur Bevölkerung verloren hat – de facto keine Demokratie mehr.

Darum aber geht es. Was immer dieses Ideal ‚Demokratie‘ darstellen sollte und ob man es gut findet oder nicht: hierum wird letztendlich gerungen. Würde eine Regierung ohne SYRIZA aber das Spardiktat der Troika durchsetzen, ließe dies das Linksbündnis als einzige seriöse Alternative erscheinen (denn von KKE und den Faschisten braucht in diesem Zusammenhang nicht gesprochen zu werden) und ihm zu einem noch größeren Auftrieb verhelfen.

Doch die Propaganda der Elite schallt von allen Enden, seien es die lokalen Herrscherlein, der abstrakte Finanz- und Weltmarkt mit seinen Instituationen oder die eiserne EU, allen voran das plötzlich doch so weit entfernte Deutschland. Von dort sind die schlimmen schlimmen Dinge zu hören – jene, die vollkommen an den Tatsachen vorbeigehen.

Zum Beispiel, dass Griechenland wohl bei der Verweigerung der Sparmaßnahmen aus der Euro-Zone aussteigen und dann alles ganz schlimm werden würde (auch wenn man drauf vorbereitet ist).

Die Frage ist aber überhaupt nicht, ob Euro oder nicht (auch wenn man darauf vorbereitet ist). Wirtschaftliche Zusammenhänge entscheiden sich nicht an einzelnen Währungen, der Geld kann man bekannterweise umtauschen. Worum es geht, ist wirtschaftliche Abhängigkeit und damit die Aufgabe einer eigenständigen Politik, oder der schrittweise Reduktion zur Wiedergewinnung von wenigstens etwas wie Handlungsspielraum.

Sollte sich in diesem Fall aber offenbaren, dass Griechenland handlungsunfähig ist, dann zeigte sich nicht die falsche Politik einer wirklichen Alternative. Nein, genau wenn dies einträte, würde die Alternative wirksam: Um zu offenbaren, dass es den souveränen Nationalstaat als ein demokratisches Gebilde überhaupt nicht mehr gibt, wie die ganze Zeit suggeriert wird. Wenn es ihn aber nicht mehr gibt (oder nur noch als Gewalt-Zusammenhang), warum dann all den pseudo-demokratischen Zirkus mitmachen?

Richtig. Und deswegen braucht es dennoch eine wirkliche Alternative im Parlament, welches es nun einmal gibt und im Moment, gewollt oder nicht, gut oder schlecht, als Dreh- und Angelpunkt der Debatte funktioniert, während die tatsächlichen gesellschaftlichen Kämpfe um Entscheidenderes kreisen – Um Verteilungsfragen nämlich und um Fragen eines menschenwürdigen Lebens für alle in einer Welt der barbarischen Kapitalüberschüsse, welche die Knechtschaft und Verelendung auf der anderen Seite begründen.

Also doch noch mal wählen. Plakatieren, Demonstrieren und sich der ganzen Propaganda-Scheiße nicht entziehen zu können, der so viele auf den Leim gehen. Die Leute werden so dumm gehalten und geführt, dass man wirklich glaubt hier in einem Zoo zu sein. Erst wählen und sich dann schlachten lassen – so wird Politik gemacht, wo es etwas geht. Nicht umsonst meinte Bismarck, dass Politik so ähnlich wie Wurst gemacht wird und die Leute gut daran täten, dass nicht so genau zu wissen. Nur zu blöd, dass das unartige Kind am Ende nicht nur keine Süßigkeiten bekommen, sondern ohne Essen zu Bett geschickt werden wird: In die kalte und dunkle Nacht des vollkommenen wirtschaftlichen Niedergangs. Dort wird sein Heulen und Zähneklappern und der braune Dämon.

PASOK und ND werden wie im letzten Wahlkampf keine Stände aufstellen, weil sie Angst haben, dass die Leute sie zerdeppern. Mit Recht, nur leider sind sie in ihren Panzerglas-Büros zu sicher, wo die Staatsmacht Tag und Nacht davorsteht und Kaffee trinkt und den Mädels auf die Ärsche schaut, weil sie neben prügeln und Motorradfahren nicht anderes kann. Na gut, wählen kann sie auch: Offenbar haben fast die Hälfte der Polizisten die Faschisten gewählt was aber nicht groß überraschen sollte.

Klarwerden sollte nur, dass es hier nicht um Parteien geht, den Spielfiguren in einem Spiel, dessen Regeln immer von Menschen gemacht werden. Aber von welchen? Und wozu? Wir Zeiten bleiben heiß, die Herzen bleiben kalt.

Nachtrag zum Zahltag

10 Mai

vom 10.05.12

Ergänzungen aus aktuellem Anlass:

Was abzusehen war trat ein: Weder Nea Demokratia, noch SYRIA oder PASOK konnte es gelingen, eine Regierungsmehrheit für sich zu vereinen. Das liegt daran, dass nur ND und PASOK, die Maßnahmen des Memorandums II zustimmen wollen und sie zusammen (mit dem Bonus der 50 Sitze für die stärkste Partei) nur auf 149 Sitze kommen, was knapp unter der Hälfte ist.

Die Dinge gingen also ihren Gang und beim Präsidenten Karolos Papoulia wurden Neuwahlen beantragt. Die werden nun am 06. oder 15. Juni stattfinden, also in den nächsten fünf Wochen und der ganze Wahlkampf-Zirkus geschieht dann noch mal.

Das könnte die Chance für SYRIZA sein. Wenn sie von noch einige des Drittels der Wahlberechtigten überzeugen können, die nicht gewählt haben und vielleicht auch weitere Stimmen der ‚linksradikaleren‘ bekämen könnten sie die ND übertrumpfen, von der sie nur 2% trennen.

Worum es also geht, ist die Bildung einer wirklich neuen Regierung, die die korrupten Eliten, welche abwechselnd seit 1974 an der Macht waren, ablösen und ein neues Kapitel in der Geschichte des gebeutelten Landes aufschlagen könnte. Zu Griechisch: vielleicht würde es endlich möglich, hier eine Art Demokratie einzurichten, die ja zumindest dem Worte nach (δημοκρατία)aus diesem Lande stammt.

Und deswegen war es wirklich wichtig, dass es genau zu diesem Zeitpunkt Wahlen gab. Ein gewisser Herr Wolfgang S. Aus D. hatte nämlich bis zuletzt versucht Druck auszuüben, damit die Wahlen verschoben werden. Gleichermaßen hauen der IMF und die EZB ihre Propaganda-Maschinen an und verkünden den Untergang, ja die absolute Apokalypse, wenn in Griechenland endlich eine linke Regierung an die Macht kommen würde.

Die Konservativen hier, stehen dem nichts nach, wenn sie in den öffentlichen Kanälen Lügen streuen und behaupten, Alexis Tsipras, der Chef von SYRIZA (und Chefs sind hier wichtig) würde aus der EU austreten wollen, was keineswegs der Fall ist. Im Gegenteil, in Griechenland geht es gerade auch um die EU – eine andere EU, eine der Bürger.

Aber wie immer muss das Fazit bleiben: Alles nicht zu ernst nehmen, sich auf wichtige Sachen konzentrieren und verstehen das Demokratie und Wahlen zwei Dinge sind (wie auch Demokratie und Kapitalismus), die eben manchmal miteinander zu tun haben.

SPEKTAKEL UND DEBAKEL

8 Mai

vom 08.05.12

Nun war’s das also. Haben die Griechen gewählt. Wie man das so machen sollte in einer Demokratie – gelegentlich. Und am Sonntag Abend haben viele die hereinkommenden Ergebnisse verfolgt. Es war ein Bisschen wie in der Fußball-EM 2004, die Griechenland überraschenderweise gewann, was den Leuten in guter Erinnerung geblieben ist. Damals, mit diesem deutschen Trainer, konnten sie ordentlich punkten. Diesmals allerdings sorgt der deutsche Trainer nicht gerade für Begeisterung – im Gegenteil, viele Leute haben keine Lust mehr sich unterwerfen zu lassen und müssen es doch jeden Tag.

Insofern spiegelt das Wahlergebnis schon die Stimmung in der Bevölkerung wieder. Dass Nea Demokratia und besonders PASOK, die beiden ‚Volksparteien‘ unschllagbar eingebrochen sind, war zu erwarten, ist aber dennoch signifikantes Zeichen für eine Gesellschaft, in der es einfach nicht mehr so weitergehen kann. Und SYRIZA, die Linke hat gewonnen. Das ist schön, weil es damit (im Gegensatz zur KKE die traditionsgemäß absahnen konnte) eine europäische Alternative gibt. Denn so sehr die Griechen ihre Eigenheiten haben mögen – hier geht es um Europa. Und um die Frage, ob die Bevölkerungen weiterhin der neoliberale Finanzherrschaft hinnehmen wollen oder einsehen, dass es so nicht weitergeht.

Nachzuschauen u.a. hier: http://www.griechenland-blog.gr/tag/wahlergebnis/

Die Konservativen bekommen als erste Partei als Bonus 50 Sitze der 300 im Parlament. Wer sich diese dämliche Regelung in der vorletzten Legislaturperiode ausdachte, hatte damit seine ganz eigenen Interessen. Bleibt abzuwarten, ob ihm das Gesetz auf den Kopf fällt, denn es wird wohl Neuwahlen geben. Für eine erneute ‚große Koalition‘ mit PASOK reicht es nicht und die anderen Parteien, auch die rechtspopulistische Ανεξάρτητοι Έλληνες (= Unabhängige Griechen) sind gegen die Durchsetzung der Sparmaßnahmen des Memorandums II.

ND hat den Regierungsauftrag als stärkste Partei verweigert. Der geht jetzt an SYRIZA weiter, die aber auch mit der ‚Demokratischen Linken‘ und der wiederborstigen kommunistischen KKE, keine Mehrheit zu Stande bringen kann.

Pattsituation könnte man sagen. Und es gibt kein Licht am Ende des Tunnels. Wahrscheinlich dürfen dann in sechs Wochen alle noch mal wählen gehen, sodass sich das Spektrum etwas konzentriert. Das betrifft vor allem auch die anderen der insgesamt 33 Parteien, die an der 3%-Hürde gescheitert sind. Wobei es doch schade ist, dass die Grünen den Einzug knapp verpasst haben – das wäre für Griechenland auch mal etwas Neues gewesen.

Nun aber zum Schandfleck, über den leichte Worte zu verlieren vollkommen unangemessen ist. Die Faschisten zu verschweigen fördert sie allerdings noch wesentlich mehr. 7% für die neofaschistische Χρυσή Αυγή (Chrysi Avgi = Goldene Morgendämmerung) ist eine der widerwärtigen Kehrseiten, des hießigen Ausbeutungsregimes. Heute ist kein Tag der Befreiung. Die Faschisten sind sowohl in ihrer Rhetorik, als auch in ihrer Aktion wesentlich deutlicher als beispielsweise die deutsche NPD. Natürlich gibt es in Deutschland auch genug Nazis, aber gleichfalls auch eine mehr oder weniger demokratische Polizei und die Leute sind aufgeklärter, denn da war ja mal was in der Geschichte. Die Rest-EU hat die ‚Migrations-Problematik‘ mit der Drittstaatenregelung nach Griechenland ‚abgeschoben‘, sodass die sozialen Konflikte hierzulande multipliziert werden. Führer Nikolaos Michaloliakos fordert Gehorsam und lässt verlauten, wer nicht für sie sei, sei gegen sie.

In der Tat, es gilt heute wieder Position zu beziehen. Denn auf gerade auf dem Land sehen die Verhältnisse anders aus, als in der Metropole Athen, wo es wirklich viele Migranten gibt. Besonders dort, in den stille ruhigen Örtchen, wo doch eigentlich alles wie immer sein sollte, schlummern die alten Säcke und jungen Glatzköpfe, die endlich Rache wollen für ihr verkacktes Leben. Blut muss fließen und Blut fließt. Die tägliche Übergriffe auf Migranten sind keine Gerüchte sondern bitteren Realität und das ist, was man hört. Was sich wirklich in einigen Gegenden Griechenlands abspielt, kann nicht mal Zyniker kalt lassen. So alt ist er und so tief sitzt der Hass, die Verachtung alles Fremden, die großen Minderwertigkeitskomplexe aus der verfehlten Erziehung. Und der griechische Staat hat diese ganze Scheiße-Ideologie zugelassen, die ganze Zeit. Die Hierarchie in der Polizei ist unglaublich. Männlichkeit, Ehre, Blutreinheit. Und die jungen Rekruten werden von ihren Hauptmännern mit runter in die Zellen der Polizeistationen genommen um die Kanaken zu schlagen. Weil das Spaß macht. Und weil das sein muss.

Just vor den Wahlen tauchen überall Geschichten auf. Und die Leute erzählen sich, was sie gehört haben, was man sich erzählt: Dass die Ausländer kriminell sind, dass sie stehlen, vergewaltigen und wie fast alle Griechen ihre Miete nicht regelmäßig zahlen. Und dann ruft jemand die Faschisten zu Hilfe und ja, Χρυσή Αυγή hilft. Hilft und zahlt den Untermenschen heim, was sie der griechischen Ehre angetan haben. 30 Konzentrationslager rund um Athen sind nicht genug. Heute ist Festtag, heute ist Ehrentag und jeder ordentliche Grieche soll mit anpacken um das Werk zu vollbringen und die Reinheit, die Ehre wieder herzustellen.

Angst und Schrecken, die Rechtfertigung dessen, was täglich geschieht und die Vorbereitung dessen, was geschehen soll. Ist nur äußerst bedingt eine Frage der Intelligenz, denn niemand muss nur ansatzweise klug sein, um zu erkennen, was hier gespielt wird. Na gut, es sind ja nur 7%, nur 21 Sitze im Parlament, sagen manche und verkennen damit, wie weitverbreitet der Rassismus und die faschistische Ideologie in der Bevölkerung wurzelt.

Und darum gilt es Position zu beziehen, denn jeder der das Geschehen relativiert macht sich mitschuldig. Das hat nichts damit zu tun, nun gleich unheimlich xenophil zu werden und multikulturell die konflikthaften Widersprüche der kapitalistischen Bewegungen zu versöhnen. Es geht auch keinesfalls um die Problematiken, welche sich aus Migration (die es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte gab) zu leugnen und sich von den bestehenden Problemen einer sich zu rasch wandelnden Kultur abzulenken.

Es geht schlicht und einfach darum, wie Einzelne zu folgendem Satz stehen:

Alle Menschen sind frei und gleich geboren und haben eine Würde, die ihnen nicht verliehen werden muss.

Hält man sich das vor Augen, wird deutlich, dass eine Wahl eben nur eine Wahl ist und die dahinter stehenden gesellschaftlichen Prozesse wesentlich wichtiger sind. Demokratie hat nichts damit zu tun, einen Zettel in eine Urne zu werfen, anschließend festzustellen, dass sich nichts ändert und sich dann über die Dummheit und Gemeinheit der Politiker zu beschweren. Das tun die meisten Griechen nämlich sehr gerne und kann als Zeichen Resignation nach jahrzehntelanger Unterwerfung gelten.

Die neue Gesellschaft aber wird entweder von den Autoritäten um die Leute herumgebaut um sie einzumauern. Oder sie wird von vielen Menschen aufgebaut, als ein Fundament eines gelingenden menschlichen Zusammenlebens, dass sich auf Gegenseitigkeit, Verantwortung und Verteilung des gemeinsamen Reichtums gründet und eine gemeinsame und lebenswerte Zukunft ermöglicht.

KÖCHELN UND BRODELN, ABER KEIN KNALLEN

1 Mai

(Erneute Anmerkung: Meine für die meisten viel zu langen Beiträge stellen nicht gerade die glänzenden Seiten da, ich weiß. Doch wo andere schweigen oder feiern, kann ich im Moment nicht anders, als auf das zu deuten, was wir ausblenden sollen. Auch wenn das viel mit meinem Leben zu tun hat, weil ich kein privat/öffentlich anerkennen will, kann ich allen LeserInnen versichern, dass hier nebenheit auch viele andere Dinge zu sehen sind und man in Athen viel Spaß haben kann.

So werden weitere Beiträge folgen, in denen es hoffenlich auch um weniger politische Inhalte geht. Unter anderem eventuell: Athener street-art, Straßenleben, Schildkröten-Katzen-Hunde, Drogenszene, antike Kultur, beruhigte Lebensstile und natürlich die Musikkultur… Über Anregungen, Kommentare und Nachfragen freue ich mich immer.) 

vom 01.05.12

Die Annahme, dass es Griechenland mit den aufgezwungenen Sparmaßnahmen hart getroffen hat ist falsch. Sie ist es deshalb, weil die wirklichen Kürzungen entweder immer noch bevorstehen oder ihre verherrende Auswirkung noch entfalten werden. Was neben materiellem Wohlstand hier aber täglich für viele Leute schwindet, ist eine politische Handlungsperspektive, die einerseits so etwas wie sozial sein und andererseits über das Bestehende hinausverweisen könnte, anstatt Elend und Ausbeutung nur weiter zu verwalten.

 Um so beeindruckender aber sind die Menschen, die dennoch nicht aufgeben und weitermachen. Wie zum Beispiel die Anarchisten mit ihren selbstorganisierten Zentren und besetzten Häusern in denen Veranstaltungen zur kritischen Selbstbildung, Filmvorführungen, gemeinsames Essen und natürlich Aktionsplanung stattfinden. Gerade die scheinbare Naivität vieler politischer Leute hier fasziniert, die das Motto: Alles muss man selber machen! wirklich leben. Weil die Fronten aber klarer sind, müssen die Dinge praktisch angegangen werden. Die Frage ‚Was tun?‘ nach einer Diskussionsveranstaltung ist in Athen konkret gemeint, wo die Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem aufgebrochen wird.

Doch man muss nicht in düsterem Schwarz herumlaufen, wo es nachmittags so warm wird, dass man wirklich vor der Sonne fliehen muss. So hat die real-democracy-Bewegung seit vor einem Jahr der Syntagma-Platz besetzt worden war, auch in Athen ihre Anhänger gefunden. Die Menschen dieser neuen politischen Generation können mit dem alten Partei- und Organisationsgehabe nichts mehr anfangen, weil sie gar keine Repräsentanz ihrer Unterdrückung wollen. Und dennoch tun und machen sie was, gehen einfach (fragend) los – Wie zum Beispiel jene Gruppe, die zu Fuß von Nizza aus ein halbes Jahr lang gewandert und nun in Athen angekommen ist. In den Städten haben sie auf öffentlichen Plätzen gezeltet und ihre Botschaft verbreitet. Ist solches Handeln einfach nur unreflekiert und verändert nichts? Ist es vielleicht nicht wirklich emanzipatorisch, wie viele sich selbst elitär fühlende Linke, die so überaus deutschen ideologiekritischen Ideologen, bemängeln?

Möglicherweise ist es aber eben doch das einzige, was noch bleibt und was immer zuletzt blieb, bevor sich was änderte: die Verfügung über den eigenen Körper in Zeiten des immer stärkeren biopolitischen Zugriffes auf diesen, mit dem Ziel noch die letzte Zelle verwertbar zu machen. Überproduktions- und Unterkonsumptionskrisen könnten weiterführen. Könnten dahin führen, Menschenrecht konkret zu verwirklichen – angefangen bei einem europäischen Grundeinkommen. Es ist alles da. Es ist mehr als genug da. Die Behauptung der Knappheit der Resourcen ist eine fortwährende Lüge, da die Verknappung materieller Güter permanent hergestellt wird, wo seit den letzten 30 Jahren eine Umverteilung von unten nach oben und die Privatisierung öffentlicher Güter betrieben wurde. Alles was da ist, gehört allen, die es produziert haben – wenn dieser Gedanke eines Tages Recht werden sollte, verlangte er allerdings ein anderes Rechtssystem.

Aber Hauptsache noch ein Ding, noch eine unnütze Sache bauen, die das Leben nicht einfacher sondern komplizierter macht. Hauptsache noch etwas kaufen und in den Kopf schütten, was irgendwie Mehrwert generieren könnte. Hauptsache noch ein Event, ein Erlebnis, das uns Leben suggeriert und über das Alltägliche und Eigentliche hinwegtäuschen soll. Dabei aber immer in Abhängigkeit bleiben; in der falschen Freiheit, die immer auf Kosten anderer genommen wird.

Die andere Freiheit kann weder genommen noch gewährt werden. Sie ist, wie die Liebe, dass, was sich verdoppelt, wenn man sie teilt: weil sie eine Beziehung zwischen Menschen ist und niemand für sich alleine frei sein kann.

Und dieses Niveau, auf dem sich Menschen begegnen, wird durch die abstrakte formale Gleichheit, als ein ähnliches behauptet. Doch da ist keine Begegnung zwischen den Bürgern und den Obdachlosen, an denen sie verächtlich vorbeigehen, weil sie nichts, gar nichts verstehen. Da ist keine Begegnung zwischen den Hausbesitzern und den Arbeitern, die ihnen das Leben bezahlen – mit ihrer Arbeits-, ihrer Lebenszeit. Keine Beziehung ist da zwischen den kleinen Händlern, die für den Staat die Mehrwertsteuer eintreiben und den Bossen der Rüstungskonzerne, welche für Staatseinnahmen nichts als Todesmaschinen geben können.

Und schließlich ist auch keine Begegnung da, zwischen Repräsentanten und den Repräsentierten in einer Demokratie, die wir uns immer nur als Luxus geleistet haben; die immer nur ein Gut-Nacht-Bonbon war um ruhig schlafen zu können, während die gesellschaftliche Fabrik weiterarbeitete.

Und wo hellwache Menschen den Einwanderern die Hände reichen, weil sie sich als Menschen erkennen, da wird der Keil reingetrieben von den Rechten, den Faschisten und der Polizei. Zwischen letzteren immerhin verschwindet die Trennung zunehmend, wo der Staat teilweise ins Schattenreich abwandert und dieses sich nicht mehr scheuen muss, ans Licht des politischen Geschehens zu drängen.

Heute und hier in Griechenland, findet eine Teilung der Gesellschaft in einem Maße statt, wie sie auch der erkaufte deutsche Wohlfahrtsstaat nicht mehr ewig wird versöhnen können.

Und die Menschen sitzen am ersten Mai, nach den großen Demos in der Stadt (wo aber nichts groß passiert) sitzen in Cafés und freuen sich, so gut es eben noch geht. Die Hunde bellen und laufen herrenlos durch die Stadt. Am bisher wärmsten Tag dieses Jahres bleibt eben doch nichts, als zu warten – vielleicht bis nach den Wahlen nächsten Sonntag. Vielleicht, vielleicht ändert sich ja doch noch was. Was auch immer.